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Schreiben mit Stift

Schneeweisschen und Rosenrot

Aktualisiert: 9. Juni 2022


Seit Jahrzehnten begrüßt mich dieser Rosenstrauch im Frühling mit seinen wunderschönen, kleinen, roten Blüten. Immer ist er da, unaufgeregt und wie selbstverständlich die Bewohner durch die Jahre begleitend.

In all dieser Zeit waren seine Blüten rosarot und duftend. Nie hatte der Rosenstrauch über die Stränge geschlagen oder sein Leben hinterfragt. Nie hatte er angezweifelt, was er war und immer sein würde. Immer war er mit dem zufrieden, was ihm das Leben bot und hinterfragte nicht, was ihm ohnehin von vornherein bestimmt war.


Vor allem auf die Farbe seiner Blüten war er immer sehr stolz gewesen. Er konnte zu Recht von sich behaupten, dass er jedes Jahr aufs Neue all seine Energie und Kraft in das Erblühen dieses Rotes investiert hatte.Doch dieses Jahr war anders als die anderen. In diesem Jahr hatte sich etwas Unglaubliches ereignet. Trotz all der Anstrengungen, seinen Blüten wieder einen korrekten, verlässlichen rosenroten Anstrich zu verleihen, konnte man mitten im Blütenmeer einen weiß blühenden Zweig erkennen!


Der Rosenstrauch wurde vor lauter Scham noch um einige Nuancen röter. Er, der immer brav das Alteingesessene gelebt hatte, er, der Tradition und Verlässlichkeit schätzte, er, der ein braves Mitglied der Rosenstrauch-Gemeinde war, hatte einen Außenseiter hervorgebracht. Rund um ihn tuschelten die Pflanzen hinter vorgehaltenen Blättern über diese seltsame Laune der Natur.

Während sich die einen über diese Unverfrorenheit alterierten, sich über Naturgesetze hinweggesetzt zu haben, gratulierten ihm die andern für seine Vorreiterrolle im Kampf um Diversity und Toleranz.


Der Rosenstrauch selber wußte anfangs nicht, wie ihm geschah und beäugte seine weißen Nachkommen mit Skepsis, doch im Laufe der Zeit begann er, die Dinge anders zu sehen. Denn die Menschen, die ihn betrachteten, waren entzückt von dieser Laune der Natur. Sie holten ihre Handykameras hervor und machten Fotos, die in den sozialen Netzwerken andere Naturliebhaber begeisterten.

Der weiße Blütenzweig, der von seinen roten Geschwistern umringt wurde und stolz daraus hervorstach, wurde zum Markenzeichen des Rosenstrauches. Mit der zunehmenden Bewunderung der Umgebung schmolzen seine Ablehnung und Scham wie Eis in der Sonne.

Es kam der Tag, als der Rosenstrauch sich eingestehen mußte, dass er seinen weißen Blütenzweig mit zärtlicher Liebe betrachten und ihn stolz als Seinesgleichen annehmen konnte.


So dürfen die verschiedenen Rosenblüten in Zukunft ihre Individualität leben, ohne auf ihren starken Stamm und ihre gemeinsamen Wurzeln zu vergessen. Denn es sind die Wurzeln, die die bunte Vielfalt an Leben nähren, halten und vereinen, um daraus etwas Neues entstehen zu lassen.


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